Was wir von Argentinien lernen können
Auf der ganzen Welt versucht die herrschende Klasse aus Kapitalist*innen, Politiker*innen und staatliche Manager*innen ihre Gewinne zu sichern, indem sie die Arbeiter*klasse für die Wirtschaftskrise zahlen lassen. Einerseits betreiben sie Stellenabbau und zwingen damit die verbleibenden Arbeiter*innen zu noch größeren Leistungen, um die Produktionsziele zu erreichen. Andererseits führen sie einen breit angelegten Angriff auf Löhne, Arbeitsbedingungen und Sozialleistungen.
Die Staaten helfen den Kapitalist*innen dabei, indem sie u.a. die Zinssätze erhöhen und den Unternehmen gleichzeitig Steuererleichterungen ermöglichen. Auch werden die staatlichen Unternehmen dem Markt angepasst oder privatisiert und die grundlegenden Dienstleistungsangebote ausgelagert (Outsourcing). Die Staaten helfen den Kapitalist*innen darüber hinaus das Arbeitsrecht auszuhöhlen, um es – wie im Falls des Streikrechts – den Arbeiter*innen so schwer wie möglich zu machen, gegen solche Angriffe Widerstand zu leisten.
Die Gewerkschaften versagen jedoch dabei, die Arbeiter*innen gegen die unmittelbar drohenden Angriffe zu verteidigen (z.B. indem sie Entlassungen verhindern und Arbeitsplätze, Löhne und Arbeitsbedingungen verteidigen könnten). Außerdem haben die Gewerkschaften es verpasst, einen wirksamen Widerstand aufzubauen, der weitere Attacken verhindern und die brutalen Auswirkungen des Neoliberalismus zurückdrängen könnte. Darüber hinaus ist die Gewerkschaftsbürokratie meist selbst an diesen Angriffen mitbeteiligt, indem sie Abkommen mit den Regierungen und Bossen schließen. […]
Angesichts solcher Bedrohungen durch die herrschende Klasse und einer Gewerkschaftsbürokratie, die entweder als Komplizin mitschuldig oder auch kampfunwillig ist, haben die Arbeiter*innen z.B. in Argentinien damit begonnen, sich im Kampf zu vereinen und eine demokratische Alternative unter eigener Kontrolle aufzubauen.
Im Juni 2017 wurde den Arbeiter*innen des US-amerikanischen Getränke- und Snackherstellers „PepsiCo“ in Buenos Aires bei ihrer Ankunft am Fabriktor mitgeteilt, dass das Werk ab sofort geschlossen ist und über 600 Arbeiter*innen gekündigt wurden. Die Fertigung sollte in eine andere Fabrik [im 400 km entfernten Mar de Plata] verlegt werden, wo von der dortigen Belegschaft noch härtere und längere Arbeit erwartet wurde, um die Produktionsausfälle nach der Schließung der Niederlassung in der Landeshauptstadt auszugleichen.
Da die [z.T. marxistisch organisierten] Arbeiter*innen dabei von ihrer Gewerkschaftsführung im Stich gelassen worden war, die noch nicht mal versucht hatte etwas Hilfe zu leisten, blieb ihnen nichts anderes übrig als ihre Jobs mittels Direkter Aktionen zu verteidigen. Gemeinsam beschlossen sie die Fabrik zu besetzen, um deren Schließung zu verhindern und ihre Arbeitsplätze zu retten.
Die Besetzung wurde zwar nach ein paar Wochen mit massiver Polizeigewalt geräumt, aber die entlassenen Arbeiter*innen haben weiter um ihre Anstellung gekämpft. Sie organisierten arbeiter*kulturelle „Widerstandsfestivals“, um breite Solidarität aufzubauen, führten Massenkundgebungen und Demonstrationen durch, blockierten Straßen und übernachteten sogar in Zelten vor dem argentinischen Parlament, um ihren Kampf weithin sichtbar zu machen.
Von diesem Zeltlager aus hatten die PepsiCo-Arbeiter*innen schließlich dazu aufgerufen, gemeinsam mit ihnen einen unabhängige, widerständische Arbeiter*organisation aufzubauen. Im Gegensatz zu der Gewerkschaftsbürokratie solle diese Initiative in demokratischen Prozessen auf offenen Versammlungen die Arbeiter*innen selbst entscheiden lassen.
Ihr aktivistischer Klassenkampf steht in Opposition zu der jahrelangen Beschwichtigungspolitik der Gewerkschaftsfunktionär*innen, welche die Arbeiter*innen Glauben machen wollen, dass sie gemeinsame Interessen mit den Bossen und der Regierung hätten. Anstatt sich kaufen zu lassen, waren die Arbeiter*innen entschlossen sich auf ihre eigene Kraft zu verlassen. Und sie gingen auch nach ihrem siegreichen Kampf [gerichtliche Rücknahme der Kündigung, sowie Entschädigungen] darüber hinaus und setzen sich für weitergehende Forderungen ein. Dadurch haben sie ihren Konflikt zu einem Vorbild für die gesamte Arbeiter*klasse Argentiniens werden lassen.
Eine der Gruppen, die diesem Aufruf bei einem Treffen im Februar 2018 gefolgt war, waren 122 Entlassenen des staatlichen Posadas-Krankenhauses, die zum Jahresbeginn gekündigt worden waren. Eine gefeuerte Krankenschwester sagte dazu:
„Wir sind entlassene Arbeiter*innen aus verschiedenen Unternehmen und Einrichtungen. Die Vorsitzenden der großen Gewerkschaften und Verbände haben uns im Kampf alleingelassen. Wir haben Streiks, Blockaden und Mobilisierungen organisiert. Nun sind wir vereint im Kampf, egal aus welcher Provinz oder Gewerkschaft wir kommen. Wir alle kämpfen gemeinsam und fordern einen landesweiten Aktionsplan, damit wir unsere Jobs wiederbekommen können.“
Der nächste Schritt war, dass am 11. April die Minenarbeiter*innen aus Río Turbio gemeinsam mit den gekündigten Arbeiter*innen von PepsiCo und dem Posadas-Krankenhaus eine Hauptstraße im Zentrum von Buenos Aires zum Stillstand brachten. An der Blockade beteiligten sich auch Mitglieder der „zurückgewonnenen“ (ent-bürokratisierten) Sektionen der Bildungsgewerkschaft, sowie outgesourcte Arbeiter*innen aus Flug- und Bahnverkehr, Fernfahrer*innen, Callcenter-Angestellte, Hafenarbeiter*innen und viele andere. Zusammen machten sie deutlich, dass es möglich ist, Arbeitskämpfe zu koordinieren und eine Einheit von unten aufzubauen. Sie forderten die Gewerkschaftsführungen auf ihr Stillhalten zu beenden und betonten die Notwendigkeit eines landesweiten Generalstreiks mit Aktionsplan.
Im Anschluss an diesen Protest fand zwei Tage später eine Vollversammlung statt, in der die Arbeiter*innen sich darauf einigten, dass ihr zentrales Problem die Rolle der bürokratischen Gewerkschatfsführer*innen ist, die entweder bei den Angriffen auf die Arbeiter*innen mitmachen, einfach wegschauen oder alles dafür tun, dass der Konflikt geschlichtet und ein Kompromiss gefunden wird. Im Gegensatz dazu beschloss die Versammlung weiterzumachen und zu einem landesweiten Generalstreik aufzurufen. Dazu sollte jeweils eine spezielle Aktionsplanung für die am Arbeitskampf beteiligten Branchen erstellt werden, und zwar von unten, also von den Vollversammlungen der betroffenen Arbeiter*innen selbst.
Der Aufruf der PepsiCo-Arbeiter*innen traf also auf ein dringendes Bedürfnis, das [nicht nur inArgentinien] besteht: Eine Möglichkeit für Arbeiter*innen, um Erfahrungen auszutauschen, aber auch um Strategien, Taktiken und Ideen zu diskutieren. Um gemeinsam eine tatsächliche Einheit aufzubauen und die Basiskämpfe zu koordinieren. Dazu muss es möglich werden, einen gemeinsamen Aktionsplan zu erstellten und die Führung der Gewerkschaftsverbände zu drängen, diesen anzunehmen und zu einem landesweiten Generalstreik aufzurufen.
Jonathan Payn (Südafrika, 14.08.2018),
in: „Ideas & Action“ (Workers Solidarity Alliance),
http://ideasandaction.info
Übersetzung: Anarchosyndikalistisches Netzwerk – ASN Köln (CC:BY-NC)
Aktuelles:
Ende September 2018 fanden unter der Führung der Gewerkschaftsverbände CGT und CTA der vierte landesweite Generalsteik dieses Jahres statt, die sich gegen das vom Internationalen Währungsfonds (IWF) aufgezwungene Sparpaket des konservativ-liberalen Präsident Mauricio Macri richteten.
Angesichts sinkender Reallöhne bei einer galoppierenden Inflation von aktuell 34% droht dem südamerikanischen Land nun eine ähnlich dramatische Rezession mit Arbeits- und Obdachlosigkeit und Hungersnot, wie bereits in der Wirtschaftskrise von 1998-2002 (https://de.wikipedia.org/wiki/Argentinien-Krise).
Siehe auch http://www.labournet.de