Irak: Massenproteste gegen die Regierung

Die prekäre Lage der Bevölkerung im Irak wird meist aus religiöser und nationalistischer Sichtweise beschrieben, wie es die Propaganda der USA und der westlichen Staaten immer darstellt, doch diese Spaltung scheint für die Leute im Süden und in der Mitte des Landes nicht länger zu gelten. Einen anarchistischen Blick auf die Lage der Arbeiter*innen, die gegen Arbeitslosigkeit, mangelnde Grundversorgung und Korruption auf die Straße gehen, bietet jedoch das kurdischsprachige Portal anarkistan.com:

Seit Anfang Juli 2018 gibt es Berichte über Massenaufstände im Irak, die anscheinend das Sektierertum zwischen Schiit*innen und Sunnist*innen beendet haben -fünfzehn Jahre nach dem Zusammenbruch des Regimes von Saddam Hussein und nach dreizehn Jahren sunnitischer Regierung in Bagdad. Das Scheitern der Wahlen und des parlamentarischen Systems sollte den sunnitischen und schiitischen Iraker*innen deutlich gemacht haben, dass der wirkliche Wandel weder dadurch, noch durch das Establishment herbeigeführt werden kann. Das war vermutlich auch der Grund, warum sich nur 38% der Wahlberechtigten an den allgemeinen Wahlen im Mai diesen Jahres beteiligt haben.

Derweil sind die wahren Gewinner*innen eigentlich die Politiker*innen, Geschäftsleute, Minister*innen, Behördenvorstände und die ausländischen Unternehmen. Die Verlierer*innen sind die einfachen Leute, denen nichts mehr geblieben ist – nicht einmal das Bischen, was sie noch unter Saddam Hussein hatten. Hinzu kommt, dass die Menschen so sehr leiden mussten unter Korruption, Privatisierung, Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit, Sektenkriegen und der zunehmenden Spaltung in Reiche und Arme, sowie an dem Mangel an Gas, Strom und Trinkwasser.

Auf jeden Fall sind die Forderungen der Menschen berechtigt, denn es bleibt ihnen angesichts des andauernden Leidens nichts anderes übrig als die Regierung durch Aufstände zu Zugeständnissen zu zwingen. Die Proteste begannen am 08.07. nachdem die Regierung des Nachbarlandes Irak die Stromlieferungen eingestellt hatte, während es in Basra etwa 50 Grad heiß war. Sie wurden immer zahlreicher und breiteten sich auf Bagdad und verschiedene andere Städte im Südirak aus.

Denn die Menschen in der Mitte und im Süden des Landes sind offensichtlich nicht länger bereit diese Zustände hinzunehmen. In Basra, einer durch Öl- und Gasvorkommen reiche Hafenstadt unter der Kontrolle der Zentralregierung und ausländischer Ölfirmen, hat sich die Bevölkerung fast eine Woche lang gegen die Herrschenden zur Wehr gesetzt. Die Ölfirmen haben zwar 30.000 Mitarbeiter*innen, aber keine aus Basra.

Diese Metropole in einer fruchtbaren Region am Persischen Golf ist die drittwichtigste Stadt nach Bagdad und Mosul. Die mehr als fünf Millionen Bewohner*innen müssen schrecklich unter den örtlichen Behörden und den ausländischen Unternehmen leiden. Sie haben keine ausreichende Gesundheitsversorgung oder Bildungseinrichtungen und einer irakischen Studie zufolge wurde bei 48% der Einwohner*innen eine Krebsart festgestellt, deren Ursache mit abgereichertem Uran aus dem Golfkrieg in Verbindung gebracht wird. Aus all diesen Gründen haben die Leute im Irak – besonders in den südlichen und mittleren Regionen – keine andere Wahl als sowohl gegen die ortlichen Behörden, wie auch gegen die Zentralregierung zu kämpfen. Die Protestierenden in Basra hatten viele Regierungsgebäude und Büros besetzt, wobei es auch zu Straßenschlachten mit Polizei und Sicherheitskräften kam. Außerdem wurden in der Stadt auch Niederlassungen und Zentralen von politischen Parteien in Brand gesetzt.

Ab dem 13.07. hatten die Proteste dann auch auf zahlreiche andere Städte und Ortschaften ausgebreitet, darunter Nasiryah, Maysan, Qadisiyyah, Karbal, Thi Qar, Babil und Najaf. Letztere ist die heiligste Stätte der irakischen Schiit*innen, wo Protestierende es geschafft hatten den Flughafen zu besetzen und dort die Kontrolle zu übernehmen. In Basra hatten sie versucht die Ölfelder und Raffinerien zu stürmen und den Ölexport zu stoppen.

Am 14.07. kam es in vier Stadtteilen von Bagdad zeitweise zu Protesten direkt in der Nähe des Regierungsviertels („Grüne Zone“), einem von internationalen Militärtruppen abgeriegelten Hochsicherheitsbereich. Es wird berichtet, dass daraufhin von der Regierung eine nächtliche Ausgangssperre über einige Stadtteile verhängt und die Hauptverbindungsstraße nach Kirkuk, dem Zentrum der nordirakischen Ölindustrie, abgesprerrt wurde.

Die Lage war dermaßen angespannt, dass der irakische Ministerpräsident Haider al-Abadi seinen Besuch in Brüssel vorzeitig beendet hat, um sich in Basra mit Politiker*innen und Vertreter*innen von ehörden, Polizei und Sicherheitskräften zu treffen. Demonstrant*innen hatten daraufhin versucht, den Veranstaltungsort zu besetzen, doch sie wurden von Polizei und Security zusammengeschlagen.

Die genaue Zahl von Getöteten oder Verletzten ist aufgrund der vielen unterschiedlichen Berichte nicht bekannt, aber es wurden Meldungen bestätigt von mehr als 20 ermordeten, über 240 verletzten und rund 1.000 verhafteten Demonstrant*innen. Gleichzeitig versuchte die Zentralregierung in Bagdad zu verhindern, dass sich Nachrichten über die Proteste in andere Städte verbreiteten. Mitte Juli war drei Tage lang Facebook dort nicht mehr erreichbar und für 19 Stunden gab es auch keine Internetverbindung.

Das Ergebnis dieser Proteste steht noch nicht ganz fest, doch bis Ende Juli hatten die politischen Parteien es nicht geschafft, die Proteste zu verhindern oder zu kontrollieren. Auch gab es bis dahin keine religiösen Forderungen, Parolen, Gesänge oder „Gott ist groß“-Rufe bei den Demonstrant*innen.

Solange sich aber die Menschen nicht selbst in gleichberechtigten, selbstbestimmten Gruppenan jedem Arbeitsplatz, sowie in jeder Straße und Nachbarschaft organisieren, um ihre Aktionen abzusprechen, wird es schwierig sein, die Lage optimistisch einzuschätzen. Es besteht nämlich die Möglichkeit, dass die Protestierenden mit schmutzigen Regierungstricks und blutiger Staatsgewalt gezwungen werden, sich selbst mit Waffengewalt zu verteidigen. Das könnte ihren Massenwiderstand aus friedlichen Demonstrationen und Protesten in einen Bürger*krieg verwandeln. Denn die jüngste Geschichte des „Arabischen Frühlings“ hat gezeigt, dass Bürger*kriege eigentlich nur Vorteile bringen für die Herrschenden, Reichen, Unternehmen und das ganze System.

Die Massenproteste in Bagdad und im Südirak gingen jedoch Ende Juli bereits in die dritte Woche, wobei sich die Demonstrant*innen ihre Unabhängigkeit erhalten haben, da weder politische Parteien, noch die Regionalregierungen in der Lage waren, sie einzudämmen oder zu kontrollieren. Einige Medienkanäle, vor allem Al Jazeera, haben versucht die Proteste schlechtzumachen, indem sie sie als vom Ausland gesteuerte Gruppen und US-Agent*innen dargestellt haben. Doch selbst die irakische Regierung musste teilweise die Berechtigung von Forderungen der Demonstrant*innen anerkennen. Ministerpräsident al-Abadi hat zugestimmt, mit 3 Millionen US-Dollar einige der von der Bevölkerung aufgestellten Forderungen zu erfüllen.

Tatsächlich steht außer Zweifel, dass die USA und der Iran, wie auch andere Nachbarstaaten, versuchen die Proteste zu zähmen, denn sie wollen aus eigenem Interesse im Irak eingreifen, um das Land in seiner geschwächten Lage zu halten. Doch sie wissen, dass ein Zusammenbruch der irakischen Regierung angesichts von Massenprotesten, Demonstrationen oder Aufständen für sie nicht von Vorteil ist – das hat sie schließlich der „Arabische Frühling“ gelehrt.

Am 22.07. hatten sich erneut tausende Demonstrant*innen auf dem Tahir-Platz in Bagdad versammelt und wurden von schwerbewaffneten Sicherheitskräften und der Polizei angegriffen. Nach Angaben der Menschenrechtskommission vom 20.07. wurden bisher 14 Demonstrant*innen getötet, 729 verletzt und weitere 757 verhaftet.

Ebenfalls am 22.07. gelang es Protestierenden ein Ölfeld in Nasiryah zu besetzten, wobei sie 75 Mitarbeiter*innen der Förderanlage festsetzten, wie die Zeitung „Almada Daily Political Newspaper“ berichtete. Die Besetzer*innen forderten sauberes Trinkwasser, höhere Löhne und die Einstellung von 270 weiteren Arbeiter*innen. Obwohl die Behörden bestreiten, dass jemand festgehalten wurde, wurde bestätigt, daß das Ölfeld besetzt und Verhandlungen aufgenommen wurden.

Letztlich ist unklar, ob durch diese Proteste alle Forderungen der Demonstrant*innen erfüllt werden können oder nicht. Aber es ist deutlich geworden, dass die Menschen den Glauben an Politiker*innen, politische Parteien und Regierung verloren haben. Vielleicht können durch diese sozialen Kämpfe auch die sektiererischen Glaubenskämpfe zwischen Schiit*innen und Sunnit*innen überwunden werden, wenn die Bevölkerung beginnen zu erkennen, dass es mehr oder weniger egal ist, wer sie regiert. Möglicherweise ist der einzige Unterschied zwischen den Herrschenden, die Art und Weise, wie sie die Menschen ausbeuten, unterdrücken und berauben.

Quelle:
https://anarkistan.com/2018/07/27/the-mass-protests-in-baghdad-and-southern-iraq-continue/

Update (13.08.):
Die Proteste gingen auch bis Anfang August trotz der Repression weiter. So wurde beispielsweise am 10.08. die Zufahrtsstraßen zum Tahir-Platz in Bagdad abgeriegelt, um Demonstrationen zu verhindern. In Basra und Diwaniyah wurde ebenfalls weiter protestiert, obwohl der bisherige Ministerpräsident al-Abadi mehr Arbeitsplätze und bessere Dienstleistungen versprochen hat. Nach den Parlamentswahlen im Mai kann sich nun die Regierungsbildung noch bis Ende des Jahres hinziehen.

Siehe auch http://www.labournet.de/category/internationales/irak/lebensbedingungen-irak/

Übersetzung und Ergänzungen: ASN Köln (CC: BY-NC)