Interview mit einem reisenden Genossen („Horst“)
AS: Du kommst gerade zurück aus Spanien. Erzähl mal deine Eindrücke, was du dort erlebt hast.
H: Also, ich war ungefähr knapp zwei Wochen in Madrid, bin angekommen am 28. Mai, also nach der [brutalen polizeilichen] Räumung in Barcelona. Was ich da zuerst gesehen habe, ist dass die Bewegung neue Kraft gefunden hat durch diese Räumung. In Barcelona ist der Platz ja direkt wieder besetzt worden, auch mit wesentlich mehr Leuten. In Madrid sind daraufhin nochmal mehr Leute deswegen dahin gekommen. Optisch war es sehr faszinierend, weil das ist ja auf der Puerta del Sol, also dem zentralen Geschäftsplatz von Madrid. Der Platz war zu großen Teilen überspannt mit so einer Art revolutionärem Slum – ich war mal in Indien und die Ähnlichkeiten sind frappierend.
AS: Also ein Hüttendorf?
H: Eine Do-It-Yourself-Metropole. Die Leute hatten größtenteils Zelte, aber es gab dann verschiedene Strukturen und die wurden größtenteils gezimmert, indem man aus Holz und Pappe Pfeiler gebastelt hat, die mit Wasserkanistern beschwert und darüber dann Planen gespannt. Sodass dann ein richtiger Basar entstanden ist, indem Plastikplanen und verschiedene Transparente als Dach gespannt waren und dazwischen standen dann Tische für die einzelnen Gruppen, die da bestanden.
AS: Also es war schon so, dass einzelne politische Organisationen sich repräsentiert haben?
H: Nein, absolut nicht! Es ist natürlich so, dass eher politische Menschen sich eingebracht haben, aber das einzige politische Symbol, das da zu sehen war, war ab und zu mal ein A-im-Kreis. Ansonsten war keine offizielle Vertretung irgendeiner politischen Organisation da, sondern das sind alles Strukturen, die sich spontan entwickelt haben. Der zentrale Punkt oder der Sinn der Besetzung war eine Vollversammlung – oder ein öffentliches Plenum – das jeden Tag um acht Uhr stattfand.
AS: Ein Forum sozusagen?
H: Auch ein Plenum…
AS: Mit Entscheidungsstrukturen?
H: Das war die letzte Entscheidungsgewalt für die Camp- und politische Organsiation in Madrid.
AS: So, wie es hier heute abend auch ein Organisationsplenum gab?
H: Nein, das war schon allgemein, da sollte sich schon jeder dran beteiligen können. Organisation war notgedrungen, weil ein bischen Struktur muss ja sein. Das war aufgeteilt in verschiedene Komissionen und Arbeitsgruppen, die waren partizipativ organisiert, also da konnte jeder mitmachen. Und die haben sich dann mit bestimmten Themenbereichen beschäftigt. Und die Funktion der Vollversammlung war vor allem generell, um die ungefähre Ausrichtung festzulegen und die Aktionen der Komissionen mussten dann davor gerechtfertigt werden. Das war, um sicherzustellen, dasss dann das kleine Plenum von 30-40 Leuten, die in einer Komission sind, nicht für die komplette Bewegung in Madrid irgendwelche Entscheidungen trifft.
AS: Und das hat funktioniert?
H: Das hat sehr gut funktioniert. Das ist das erste Mal, dass ich gesehen, habe dass man über tausend Leute in einem basisdemokratischen Plenum organisiert und ein Konsens gefunden wird. Das hat natürlich teilweise sehr lange gedauert, aber es hat immer geklappt. Es wurden so die üblichen Handzeichen für Ablehnung, Zustimmung, Veto usw. verwendet.
AS: Es war also schon der Einfluss der Anti-Globalisierungsbewegung spürbar?
H: Der war spürbar und auch deutlich anarchistischer… Ich würde sagen es ist anarchistische Praxis, keine anarchistische Utopie – einige Einzelpersonen haben die natürlich, aber das ist nicht repräsentativ. Man findet sich nicht deswegen zusammen, aber der Ansatz der Leute, die sich als Versammlungs-isten bezeichnen, ist in der basisdemokratischen Versamlung neue Formen der politischen Organsiation zu entwickeln, in der vermieden werden sollte, dass man sich auf Differenzen konzentriert und in alten Grüppchen zusammenrottet. Sondern dass man als Individuum mit seiner Meinung in diese Versammlung geht und versucht mit allen anderen einen Konsens zu finden.
AS: Also keine Mehrheitsabstimmungen?
H: Keine Mehrheitsabstimmungen!
AS: Du hast vorhin gesagt, die einzelnen Gruppen haben die Möglichkeit sich darzustellen. Sind das Stadtteilgruppen oder wie sind die organisiert?
H: Nein, die waren einfach für die Organsiation. Man muss sich das vorstellen: 600 Leute sind immer auf dem Platz gewesen und es wurde zu verschiedenen Interessengebieten gearbeitet. Es gab eine Aufteilung in Komissionen, das waren Gruppen, die sich spezifisch mit den Sachen, die das Camp betreffen, beschäftigten. Und die Arbeitsgruppe, das waren die, die sich mit breiteren politischen Themen beschäftigten.
AS: Wie zum Beispiel?
H: Zum Beispiel „Politik“. Da wurde dann versucht ein politisches Ziel zu formulieren, das konsensfähig war für die komplette Madrider Bewegung. Da wurde dann versucht die Aufspaltung zwischen Revolutionären und Reformisten zu lösen. Es gab dann die Aufteilung, was sie dann „Politik im kleinen Platz“ und „Politik im großen Platz“ genannt haben. Das hat auchrecht gut funktioniert. „Politik im kleinen Platz“ meinte dann eben konkrete Sachen, zum Beispiel Änderung des Arbeitsrechts oder die Verhinderung von Änderungen des Arbeitsrechts, die gerade in Spanien auf Druck der deutschen Regierung durchgesetzt werden sollen.
AS: War denn da auch spürbar, dass Anhänger der beiden großen Gewerkschaften (UGT und CC.OO) da sind?
H: Nein, die waren unerwünscht. Und die wurden auch ganz klar kritisiert, denn der Schlachtruf dieser Bewegung ist ja auch: „Sie repräsentieren uns nicht“!
AS: Also auch die Gewerkschaften, nicht nur die Politiker?
H: Am Anfang war das noch sehr bürgerlich geprägt und man fremdelte so ein bischen mit der Arbeiterbewegung – zumindest zu Beginn als ich da war…
AS: Wann war das ungefähr?
H: Vor drei Wochen. Aber das hat sich dann auch zunehmend aufgelöst. Man hörte am Anfang oft die Argumentation, man sei jetzt hier nicht als Proletarier, sondern als Mensch, um das möglichst offen zu halten. Aber es hat sich dann zunehmend in Richtung auf eine Zusammenarbeit mit den Basisgewerkschaften entwickelt. Und es wurde dann auch in einer deutlichen Formulierung klassenkämpferischer Themen durch die Politik-Gruppe, was dann auch durch die Vollversammlung usw. bestätigt wurde.
AS: Gab es denn auch in Madrid Nationalisten?
H: Es war kaum etwas zu merken. Die Bewegung sollte wie gesagt offen sein, also Konservative waren grundsätzlich erstmal erwünscht. Das hat man auch in manchen Diskussionen gemerkt, wenn es dann zum Beispiel um „Reformismus statt Revolution“ ging. Die Reformisten nahmen dabei eine Minderheit ein, wurden allerdings in den Konsensentscheidungen berücksichtigt.
AS: Du würdet also sagen, mehrheitlich ist die Bewegung revolutionär oder zumindest fortschrittlich?
H: Entscheidend für mich war: Was hier schriftlich ankommt – muss man bedenken – ist immer ein Minimalkonsens von ungefähr tausend Leuten. Das heisst, ich hab zum Beispiel eine Versammlung mitbekommen, da ging es darum, ob die Bewegung eine Änderung der spanischen Verfassung forden soll, die mehr direkte Demokratie und Volksbegehren ermöglicht. Da waren etwa 700-800 Leute strikt dagegen und fanden, dass mit der Regierung nicht verhandelt werden kann, weil autoritäre Strukturen sich selbst reproduzieren und solche reformistischen Bestrebungen da nichts bringen können. Und dann wurde auch noch darauf verwiesen, dass das technisch kaum durchsetzbar sei. Es gab dann eine Minderheit, die das eben doch angestrebt hat, und man einigte sich am Ende dann eben als Konsens darauf, dass die Bewegung nicht mit den Mächtigen verhandeln wird. Und dass sie weitergehende Ziele hat, man es aber begrüßt, wenn eine Veränderung der Verfassung zustande käme – als Nebeneffekt. Die Mehrheit der Menschen war aber strikt gegen reformistische Verhandlungen jeder Art.
AS: War es spürbar, dass auch in Griechenland ähnliche Proteste stattfinden?
H: Oh, ja. Das wurde sehr stark thematisiert. Die haben auch klar den Anspruch eine europäische Revolution anzufangen. Wobei ich da doch starke Sprachbarrieren festgestellt habe. Es gab die Information, dass sich hier in Köln vor zwei Wochen schon einmal Leute getroffen hätten. Das wurde in Madrid gleich als Nachricht beim Kommunikationszelt als „Camp in Köln“ ausgehängt. Ich hab dann mal im Internet gesucht und nichts gefunden. Daran hab ich auch gemerkt, dass trotz des Anspruchs sehr international zu sein, die Sprachbarrieren noch existieren und das etwas einschränkt.
AS: Waren denn überhaupt andere Internationale da, aus Frankreich oder aus Nordafrika?
H: Ich hab Italiener getroffen, Holländer, jemand von Resistanbul, Franzosen natürlich auch…
AS: Aber aus Nordafrika nicht?
H: Die waren schon da, aber das waren nicht einzelne angereiste Aktivisten, sondern es waren viele Migranten da. Es gab auch eine Arbeitsgruppe, die sich mit Migration beschäftigt hat und versucht hat, dass in der spanischen Gesellschaft Rassismen abgebaut werden oder zumindest in diesem Camp nicht ausgelebt werden.
AS: Ich meinte schon eher den Austausch zwischen den Aktivisten über die Landesgrenzen hinweg.
H: Da hatte ich nicht so den Eindruck. Mit Nordafrika gab es den eher über das Internet, der war vorhanden. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass jemand als Repräsentant der nordafrikanischen Bewegung da war, sondern die Menschen aus dem Maghreb waren als Migranten in Spanien, die dort leben, mit ihrer migrantischen Situation…
AS: Wenn du das jetzt so siehst in Köln und auch in anderen Städten, wo es ähnliche Camps gibt, wird es in Madrid wahrgenommen, dass auch Solidarität aus Ländern kommt, in denen es keine breite Massenbewegung gibt?
H: Auf jeden Fall! Das wird wahrgenommen und es wird sogar größer eingeschätzt als es ist. Das meine ich mit der Sprachbarriere, da fehlt dann auch der Blick darauf, dass es in Deutschland unwahrscheinlich ist, dass eine spontane Massenbewegung mit einer halben Million Leute zusammenfindet.
AS: Gegen Atomkraft hat es ja funktioniert. Und in Großbritannien gibt es auch Riesendemos und Bewegungen gegen Kürzungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich…
H: Aber diese nuancierten Unterschiede im Vergleich zur spanischen Situation werden dort nicht wahrgenommen. Aber das große Ziel ist, im Herbst einen weltweiten Aktionstag zu machen.
AS. Dieses Camp hier ist ja auch entstanden aus dem internationalen Aktionstag 19. Juli. Hast du was gehört, ob das anderswo auch stattgefunden hat?
H: Ich hab wenig gehört, denn ich war auch wenig involviert seit ich wieder hier bin. In Frankreich und Belgien war glaube ich was.
AS: Belgien und Italien sind ja auch die nächsten, die auf der Abschussliste der Ratingagenturen stehen. Das heisst also, die Krise geht auch in anderen europäischen Ländern weiter.
H: Natürlich tut sie das.
AS. Dann hoffe ich, dass wir uns wieder auf der Straße sehen…
Das Interview führte das Anarchosyndikat Köln/Bonn