M.P.T. Acharya: Vom indischen Nationalismus zum Anarchosyndikalismus

Die französische CNT-IAA hat im April 2024 folgenden Text auf Deutsch veröffentlicht:

M.P.T. Acharya wurde am 15. April 1887 in Chennai in eine bhramanischen Familie geboren. Von den ersten Jahren an war er in den nationalistischen Kampf verwickelt. Er gab für seinen Onkel eine nationalistische Zeitschrift heraus. Als die Zeitung von den Kolonialbehörden unterdrückt wurde musste Acharya in das von Frankreich gehaltene Pondicherry fliehen.

Da er sich dort nicht sicher fühlte, verließ er Indien und landete in Frankreich. Er zog bald nach London und schloss sich Indian House mit V.D. Savarkar, Madan Lal Dhingra und anderen indischen Nationalisten an. Als Dhingra 1909 Sir William Hutt Curzon Wyllie ermordete, löste sich Indian House bald auf.

Mandayam Parthasarathi Tirumal Acharya (Quelle: WikimediaCommons; public domain)

1909 kam Acharya zusammen mit einem anderen indischen Revolutionär namens Sukhsagar Dutt in die Riff-Region von Marokko, mit dem Ziel, sich der bewaffneten Rebellion gegen den spanischen Kolonialismus anzuschließen. Doch dieses Abenteuer scheiterte, da die Riff-Rebellen nicht bereit waren, die beiden Inder zu rekrutieren, da sie sie für Spione hielten.

In den folgenden Jahren besuchte er Berlin, München und im November 1911 war er in Konstantinopel, um muslimische Unterstützung im Kampf gegen die Briten zu gewinnen. 1912 zog er nach New York und 1914 nach San Francisco, wo er die tamilische Ausgabe der Parteizeitung von Gadar herausbrachte. Die Gadar Party wurde vor einem Jahr mit Hilfe seines Freundes und IWW-Mitglieds Har Dayal gegründet. Har Dayal hatte Zeit mit Emma Goldman verbracht. Als Dayal 1914 deportiert wurde, weil er ein “Anarchist” gewesen sei, protestierte Emma und schrieb darüber in der Zeitung “Mother Earth”.

In dieser Zeit sah Acharya das wahre Gesicht der westlichen Demokratien und entfernte sich von der Vorstellung des Nationalstaates. “Um große Städte mit elenden Menschen zu schaffen, die kaum überleben, wollen wir ‚Swaraj`[1] haben?”, fragte er.

“Ich tröstete mich mit der Antwort, dass das Elend auf fremde Herrschaft zurückzuführen sei, aber unter indischer Herrschaft würde alles verschwinden, denn unsere Landsleute werden Freunde der Armen sein, wenn sie an die Macht kommen. Später jedoch, als ich nach Europa ging und das Elend dort sah, zerschlugen sich meine Illusionen über eine ‚nationale`Regierung.”

Acharya verbrachte die Zeit des Weltkriegs im Nahen Osten und nahm 1917 mit Virendranath “Chatto” Chattopadhyaya an einer sozialistischen Friedenskonferenz in Stockholm teil. Dort traf er prominente bolschewistische Führer und 1919 auch Lenin. 1920 half Acharya bei der Gründung der Kommunistischen Partei im Exil und wurde deren Vorsitzender, mit M.N. Roy als Sekretär. Acharya wurde 1921 jedoch ausgeschlossen, weil er die Richtung kritisierte, die die CPI unter dem autokratischen Verhalten der Komintern bzw. Roy einschlug.

Acharyas Engagement in der internationalen anarchistischen Bewegung wurde durch seine Enttäuschung über die UdSSR und der gesamten marxistische Priesterschaft ausgelöst. Er schrieb:

“Wir sind Anarchisten, weil wir weder außen noch innen Autoritarismus wollen, weil für uns Antimarxisten das Leben und die Gesellschaft ein unteilbares Ganzes sein müssen, das unmöglich mechanisch getrennt werden kann, wie Marxisten anorganischerweise denken und glauben.”

“Der Kommunismus kann nur durch und über den Anarchismus entstehen, nicht davor oder danach, wie Lenin vorhergesagt hat, welcher mit gebrochenem Herzen und wahnsinnig gestorben ist.

Ende Dezember 1922 nahmen Acharya und eine Gruppe Inder an der Gründungsversammlung der wiederbelebten anarcho-syndikalistischen IAA teil, mit Rudolf Rocker, Augustin Souchy und Alexander Schapiro als Sekretären [2].

Unter den anderen Delegierten des Gründungstreffens war der japanische Anarchist Yamaga Taiji, mit dem Acharya Zeit seines Lebens in Kontakt geblieben ist.[3]

Auf Anregung des IAA-Sekretariats wurde daraufhin ein Komitee der Inder in Europa mit dem Ziel gegründet, anarchistische Literatur nach Indien zu bringen. Obwohl es in voller Übereinstimmung mit der IAA arbeitete, war das Komitee dieser formell nicht angeschlossen.

Ein Bericht im IAA-Magazin [“Die Internationale”]  führte 1924 aus:

“Das IAA-Sekretariat unterstützte dieses Komitee und versuchte alles, um einen revolutionären Syndikalismus in Indien voranzutreiben, und schaffte es auch Verbindungen dorthin herzustellen. Der [IAA]-Pressedienst wurde speziell für Indien in englischer Sprache herausgegeben und nach Indien versandt, und sein Inhalt wurde in einigen Organen indischer Arbeiterorganisationen abgedruckt. Der erste ‘Erfolg’, den wir in Indien hatten, war, dass die indische Regierung jegliche IAA-Kommunikation nach Indien verbot.” [5]

Tatsächlich verbot die indische Regierung gemäß dem Seezollgesetz von 1878 “das Einbringen von Veröffentlichungen der Internationalen Arbeitervereinigung, Berlin, auf dem See- oder Landweg nach Britisch-Indien zu jeder Zeit, egal in welcher Sprache, sie gedruckt wurden.” [6]

Kurz nach dem Treffen bot Acharya unter seinem zweiten Vornamen Bhayankar eine vernichtende Kritik an Roys “Programm für den indischen Nationalkongress” vom Dezember 1922 (Kapitel 1). Ein paar Monate später schrieb Acharya an Chittaranjan “C.R.” Das, Herausgeber der radikalen bengalischen Zeitung Forward, dass seine politische Überzeugung nun “Anarchismus, pur und einfach” sei. Während dieser Zeit des Übergangs vom Kommunismus zum Anarchismus schrieb er Beiträge zu Sylvia Pankhurst’s “The Workers’ Dreadnought” und zur russischen anarcho-syndikalistischen Zeitung “Rabochii Put”, herausgegeben von Grigori Maximoff und Schapiro in Berlin. Und er schickte seine Artikel an Indien.

“Die Lage in Indien” (17. Juli 1923): Acharya berichtete für den IAA-Pressedienst über die Non-Cooperation-Bewegung, terroristische Aktivitäten, Streiks und die Feierlichkeiten zum ersten Mai in Indien (hier die deutsche Version)

Danke an Ole Birk Laursen für seine inspirierenden Arbeiten, die dazu beigetragen haben, das Leben und die Ideen von M.P.T. Acharya auszugraben und wieder ans Licht zu bringen!

Quellen:

MPT Acharya, We Are Anarchists, Essays on Anarchism, Pacifism, and the Indian Independence Movement, 1923–1953 de Ole Birk Laursen,
https://theanarchistlibrary.org/library/mpt-acharya-we-are-anarchists

[1] Swaraj kann im Allgemeinen «Selbstverwaltung» oder «Autonomie» (swa- «mein», raj «Herrschaft») bedeuten, aber das Wort bezieht sich normalerweise auf Mahatma Gandhis Konzept der indischen Unabhängigkeit von Fremdherrschaft. Swaraj betont Governance nicht durch hierarchische Herrschaft, sondern Selbstverwaltung durch Einzelpersonen und Gemeinschaftsbildung. Der Fokus liegt auf politischer Dezentralisierung. Da dies gegen die von Großbritannien verfolgten politischen und sozialen Systeme verstößt, verwirft Gandhi’s Swaraj-Konzept britische politische, wirtschaftliche, bürokratische, rechtliche, militärische und Bildungseinrichtungen in Indien.

[2] Wayne Thorpe, The Workers Themselves: Revolutionary Syndicalism and International Labour, 1913–1923 (Dordrecht; Boston: Kluwer Academic and International Institute of Social History, 1989), 267.

[3] Victor Garcia, Three Japanese Anarchists: Kotoku, Osugi, and Yamaga (London: Kate Sharpley Library, 2000), 23.

[4] «Die Propaganda des revolutionären Syndikalismus in Indien», Der Syndikalist, 5:4 (1923), Beilage.

[5]  «Indien», Die Internationale, Nr. 5, Juni 1925

[6] «Prohibition of the bringing by sea or by land into British India of any copy of any publication issued by the International Working Men’s Association Berlin», PR_000000192248, file 22–23, NAI.

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Auszug aus der Broschüre:
“Vom revolutionären Syndikalismus zum Anarcho-Syndikalismus:
Die Geburt der Internationalen Arbeiter Assoziation (IAA) in Berlin, 1922″

[Broschüre, 64 Seiten. Hier können Sie das PDF herunterladen: Download]

Um die Papierversion zu erhalten, senden Sie eine E-Mail mit Ihrer Adresse an contact@cnt-ait.info oder schreiben Sie an CNT-AIT, 7 rue St Remesy, 31000 Toulouse, Frankreich

Index:

Vom revolutionären Syndikalismus zum Anarcho-Syndikalismus: Die Geburt der Internationalen Arbeiter Assoziation (IAA) (Artur Lehning)

Der Gründungskongress der IAA wurde zweimal von der Polizei unterbrochen

Emma Goldman, Zeugin des Gründungskongresses des IAA

«Sanya» Schapiro, eine vergessene, aber maßgebliche Figur bei der Geburt des IAA

MPT ACHARYA: Vom indischen Nationalismus zum Anarcho-Syndikalismus (CNT-AIT, Frankreich)

Kropotkin und der Wiederaufbau der International Workers Association (KRAS-AIT)

Quelle:
http://cnt-ait.info/2024/04/15/acharya-de/