Russland und Ukraine: Repression gegen Kriegsdienstverweigerer

Die französische CNT-IAA hat folgenden Artikel veröffentlicht, der auf einem Bericht beruht, welcher am 08.04.2023 von der KRAS-IAA veröffentlicht wurden, der russischen Sektion der Internationalen Arbeiter*innen-Assoziation:

In Russland und der Ukraine gibt es vermehrt Repressionen gegen diejenigen, welche nicht für die Pläne der Herrschenden oder der Kapitalist*innen kämpfen und sterben wollen. Bei russischen Gerichten wurden bereits mehr als 500 Strafverfahren gegen Soldaten eingereicht, wobei diese eingeleitet wurden, nachdem das Gesetz zu Beginn der Mobilmachung verschärft wurde. In der Ukraine wurden in tausenden Fällen Verfahren eingeleitet wegen unbefugtem Verlassen von Militäreinheiten, Desertion und Befehlsverweigerung gegenüber Kommandanten usw.

 „Mediazona“ [ein unabhängiges russisches Medienunternehmen] untersucht strafrechtliche Angelegenheiten gegen Militärangehörige in Russland untersucht und berichtet, dass sowohl freiwillige, wie auch eingezogene Soldaten fliehen und verschwinden, indem sie sich direkt weigern, dem Befehl zu gehorchen in die Ukraine geschickt zu werden, oder indem sie von der Front desertieren.


Bei den Militärgerichten wurden bereits 536 Fälle im Rahmen der neuen verschärften Strafverfolgungsgesetze zur Anklage gebracht: unerlaubtes Entfernen von der Einheit, Befehlsverweigerung, Fahnenflucht und anderes. 247 Soldaten wurden bereits verurteilt. Es gibt jeden Monat immer mehr Fälle; noch vor Ende März 2023 gab er bereits einen Höchstrekord. Die häufigste Anklage ist das unbefugte Verlassen der Militäreinheit mit 471 vor Gericht gebrachten Rechtsverfahren; in mehr als der Hälfte der Fälle waren die Soldaten über einen Monat lang abwesend (249 Fälle).

Am 21. März wurden 14 Personen wegen Desertion angeklagt und 21 wegen Gewaltanwendung gegen einen Kommandanten oder Offizier. Die meisten Strafsachen wurden vor Gerichten in der Region Moskau (40), Kaliningrad (27), Samara (23) und der Region Rostow verhandelt.

Die Prozesse von Verweigerern und Fahnenflüchtigen werden in der Öffentlichkeit als Schauprozesse präsentiert, um andere Soldaten einzuschüchtern: Die Rekruten werden von anderen Soldaten verurteilt, degradiert und verhaftet. Die Urteile werden in militärischen Einheiten verkündet und die Richter halten „prophylaktische (vorbeugende) Vorträge“.

Im Gegensatz dazu werden diese Fälle vor der Zivilgesellschaft verborgen: die Urteie werden in der Regel nicht veröffentlicht, oft werden sogar keine Strafen ausgesprochen und die Statistiken werden unter dem Vorwand der Geheimhaltung zurückgehalten. Viele Soldaten – mehr als ein Drittel der bekannten Verurteilungen wegen Desertion oder Fahnenflucht – erhalten Bewährungsstrafen. Dadurch können sie wieder an die Front geschickt werden.

Diejenigen, die nicht fliehen, sich aber offen dem Kriegsdienst verweigern, werden wegen Befehlsverweigerung angeklagt – die Zahl dieser Verfahren steigt ebenfalls (es gibt bereits 25 solche Fälle vor Gericht). Dies ist die beste Option für Kriegsdienstverweigerer: Die Strafen für die Nichtbeachtung eines Befehls sind niedriger vorgesehen als für andere Verstöße gegen die Artikel des Mobilisierungsgesetzes (https://zona.media/article/2023/03/22/500500).

In den letzten Monaten wurde die Repression weiter verstärkt und neue Urteile wurden verkündet:

So hat das Militärgericht der Garnison in Tambov einen eingezogenen Rekruten zu fünf Jahren Haft verurteilt, weil er im November seinen Dienstposten verlassen hat und ohne Genehmigung nach Hause gefahren war, woraufhin er im Januar verhaftet wurde.

Zuvor hatte das Militärgericht der Garnision Krim einen Berufssoldaten wegen Desertion zu neun Jahren in einem strengen Arbeitslager verurteilt, weil er nicht an der „Spezialoperation“ teilnehmen wollte.

Ende März wurde jemand von Militärgericht der Garnison in Barnaoul zu 6,5 Jahren Gefängnis verurteilt, der ebenfalls wegen Fahnenflucht angeklagt worden war. Der Major hatte aus Angst vor der Verschickung in das Kriegsgebiet gelogen, indem er sagte, er würde sich nicht gut fühlen. Er verließ daraufhin die Einheit,
packte seine Koffer und versuchte, das Land zu verlassen, wobei er von Grenzschutzbeamten verhaftet wurde.

Ende Februar verurteilte ein Gericht in Kamtschatka Sergej Wladimirov, einen Soldaten der pazifischen Flotte, zu acht Jahren Gefängnis wegen Desertion und Gewaltanwendung gegen einen Regierungsbeamten. Im Oktober letzten Jahres hatte er seinen Dienstort verlassen und als Mitarbeiter der Strafverfolgungsbehörden einen Hausbesuch machten, sprühte er ihnen Pfefferspray ins Gesicht und versuchte sich zu verstecken (https://newizv.ru/news/2023-04-07/v-tambove-mobilizovannogo-prigovorili-k-pyati-godam-za-samovolnoe-ostavlenie-chasti-403678)

In Sewastopol verurteilte das Garnisonsgericht zwei Soldaten zu mehr als drei Jahren Gefängnis, weil sie sich geweigert hatten, sich in ein Kampfgebiet zu begeben. Ende März verhängte das Militärgericht der Garnison Krim eine Strafe von neun Jahren (!!) wegen Fahnenflucht gegen einen vertraglich verpflichteten Soldaten, der im September seine Militäreinheit in Sewastopol verlassen hatte, weil er nicht an Kämpfen teilnehmen wollte und sich daher auf der Krim versteckt hatte
(https://sevastopol.su/news/kontraktniku-iz-sevastopolya-dali-9-let-za-dezertirstvo).

Ende Dezember wurden in Kursk zwei Rekruten (Juri Degtyarev und Alexei Seliwanow) zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie sich weigerten, dem Befehl des Kommandanten nachzukommen, an Kampfhandlungen teilzunehmen. Sie wurden nach der Verkündigung der Teilmobilmachung Ende September 2022 eingezogen und für den Militärdienst der Kategorie „A“ als geeignet eingestuft. Im Oktober nahm Degtyarev an den Kampfhandlungen teil, aber wurde danach an seinen Militärstandort zurückgeschickt.

Im November verweigerten er und Seliwanow in der Kaserne dem Befehl des kommandierenden Leiters, ihre Schutzwesten und persönliche Waffen entgegen zu nehmen. Sie wollten sich nicht in die „Sonderoperation“ versetzen lassen, um fehlende Kampfeinheiten zu ersetzen. Zuerst lehnten sie es mündlich ab und gaben danach schriftliche Berichte ab. Im November wurden dann beide verhaftet als sie sich vom Manövergebiet absetzen wollten (https://www.kommersant.ru/doc/5915055).

 Le 31 mars, il a été signalé qu’à Saint-Pétersbourg, le tribunal militaire de garnison avait prononcé une condamnation contre un militaire sous contrat russe qui s’était enfui d’une unité militaire pendant la période de mobilisation.
Am 31. März wurde berichtet, dass das Gericht der Militärgarnison in Sankt Petersburg einen russischen Berufssoldaten verurteilt habe, der während der Mobilmachung aus einer militärischen Einheit geflohen sei.

Zwei Soldaten aus Biysk sind aus der Garnison ihrer Einheit abgehauen und wurden auf die Liste der gesuchten Personen gesetzt. Der Leiter der Militärpolizei von Biysk verkündete gemeinsam mit dem Zivilpolizei-Präsidenten der Bezirke Biysk und Soltonsky, dass es sich um die Rekruten Alexander Tabakaev (*1983) und Artem Vdovichenko (*1988) handele. Wahrscheinlich waren sie aus derselben Einheit geflohen, aber ohne zusammenzuarbeiten (https://forpost-sevastopol.ru/newsfull/461197/dvoe-rossijskih-voennyh-sbegali-iz-chasti.html).

„Mediazona“ berichtete von einem Fall von Repression gegen einen Soldaten, der sich aus religiösen Gründen weigerte an Kampfhandlungen teilzunehmen. Das Gericht der Militärgarnisont von Zaozersky in der Region Murmansk verurteilte Leutnant Dmitry Vasilets zu zwei Jahren und fünf Monaten Gefängnis, weil er sich weigerte, am Krieg mit der Ukraine teilzunehmen. Das Gericht hat ihn der Nichtbefolgung eines Befehls im Rahmen eines bewaffneten Konflikts für schuldig befunden. Im Oktober wurde ein Strafverfahren gegen Vasilets eröffnet, der zuvor als leitender Beamter in Pechenga (Region Murmansk) gedient hatte.

Im Februar 2022 wurde er dann in den Ukraine-Krieg geschickt. Fünf Monate später erhielt er eine Erlaubnis vorübergehend zurückzukehren und er beschloss, zui den Eltern eines verstorbenen Kameraden nach Bouriatien zu gehen. Daraufhin „nahm er die Philosophie des Buddhismus an“, welche ihn seit langem interessiert hatte. Nach dem Ende seines Heimaturlaubs befahlen ihm die Behörden, an die Front zurückzukehren, aber Vasilets weigerte sich aufgrund seiner Überzeugungen. Im August legte er einen Bericht vor, um seine Verweigerung zu bekunden dorthin zurückzukehren. Einen Monat später schichte er das Dokument erneut, woraufhin die Armee Klage gegen ihn einreichte. Er wurde der erste bekannte Angeklagte in einem Fall von Befehlsverweigerung während des Kampfeinsatzes (https://zona.media/news/2023/04/07/vasilec).

Zwischenzeitlich verbreiteten sich weitere Informationen in Russland, dass es Pläne gibt, die persönliche Übergabe der Einberufungsbescheide zu ersetzen durch die Übermittlung der Einberufung über elektronische Netze und auf der Website des staatlichen öffentlichen Dienstes „GosOusloug“ (von „Gos“ als Abkürzung von Verwaltung in Russisch und „Ousloug“ für Service). Obwohl Anwält*innen die Rechtmäßigkeit eines solchen verpflichtenden Verfahrens (zumindest bis zur Änderung des Einberufungsgesetzes) bezweifeln, haben einige Registrierungs- und Aufnahmebüros des Militärs diese Idee bereits mit Begeisterung aufgenommen.

So bestätigte der Militärkommissar der Region Rostow, dass das Projekt untersucht wurde und erklärte, dass die Digitalisierung zunehmen wird und die Militärkommissariate nicht auf diese Möglichkeit verzichten werden (https://161.ru/text/gorod/2023/04/03/72187082/). Ähnliche Pläne wurden in der Ukraine diskutiert, aber es wurde zugesagt, sie mindestens bis Ende 2023 zu verschieben.

Die Repressionen gegen diejenigen, die nicht kämpfen wollen, nehmen auch auf der anderen Seite der Front zu. Die Zahl der Strafverfahren, die in der Ukraine für Verstöße gegen den Militärdienst allein in der Zeit von Januar bis November 2022 eingeleitet wurden, hat sich im Vergleich zum Vorjahreszeitraum mehr als vervierfacht: von 2.835 bis 12.263. Wir sprechen hier von Straftaten wie Fahnenflucht, unerlaubtes Verlassen der Einheiten, Befehlsverweigerung und Verhinderung der Einberufung. Insbesondere nach den Statistiken des Büros des Generalstaatsanwalts der Ukraine wurden in diesen elf Monaten in der Ukraine 2.887 Strafverfahren wegen Desertion registriert (Artikel 408 des Strafgesetzbuches). Zum Vergleich: Für den gleichen Zeitraum im Jahr 2021 wurden aus diesem Grund nur 110 Verfahren, was 26-mal weniger war.

Die Ukrainer werden jedoch nach allen Regeln der Kunst weitaus aktiver verfolgt. Beispielsweise nach Paragraph 407 des Strafgesetzbuches („Unbefugtes Verlassen einer Einheit oder eines Dienstortes“): 5.306 Strafverfahren im Jahr 2022, gegenüber nur 1.850 im Jahr 2021. Darüber hinaus betreffen die anderen Gerichtsverfahren auch Fälle des offenen Ungehorsams gegen Vorschriften (1.140), der Umgehung der Mobilmachung (1.089), von Bedrohung oder Gewalt gegen Offiziere (195), freiwillige Kapitulation (20) und andere militärische Verbrechen, welche die Artikel des ukrainischen Strafgesetzbuches regeln (https://rtvi.com/news/vedomosti-na-ukraine-chislo-ugolovnyh-del-o-voinskih-prestupleniyah-vyroslo-v-4-raza-za-poslednij-god/)

Übersetzung: Anarcho-Syndikalistisches Netzwerk – ASN Köln, https://asnkoeln.wordpress.com
(CC:BY-NC)

Quellen:
https://nowar.solidarite.online/blog/russie-ukraine-r%C3%A9pressions-contre-ceux-qui-ne-veulent-pas-se-battre
https://aitrus.info/node/6068

Mehr Infos:

Anarchist*innen in der Ukraine widerstehen Krieg und Frost
https://anarchosyndikalismus.blackblogs.org/2023/01/19/anarchistinnen-in-der-ukraine-widerstehen-krieg-und-frost/

Russland: Spontaner Massenwiderstand gegen Mobilmachung
https://anarchosyndikalismus.blackblogs.org/2022/10/05/russland-spontaner-massenwiderstand-gegen-mobilmachung/

Russland: Über prinzipienvergessene „Anarchist*innen“
https://anarchosyndikalismus.blackblogs.org/2022/06/18/russland-ueber-prinzipienvergessene-anarchistinnen/

Russland: Unterstützung für inhaftierte Kriegsgegner*innen
https://anarchosyndikalismus.blackblogs.org/2022/05/31/russland-unterstuetzung-fuer-inhaftierte-kriegsgegnerinnen/

Polen: Gegen den Krieg!
https://anarchosyndikalismus.blackblogs.org/2022/04/10/polen-gegen-den-krieg/

Der Kampf gegen den Krieg in Russland und der Ukraine
https://anarchosyndikalismus.blackblogs.org/2022/04/08/der-kampf-gegen-den-krieg-in-russland-und-der-ukraine/

Russland: Hintergründe zum Krieg in der Ukraine
https://anarchosyndikalismus.blackblogs.org/2022/03/16/russland-hintergruende-zum-krieg-in-der-ukraine/

Friede den Hütten, Krieg den Palästen!
https://anarchosyndikalismus.blackblogs.org/2022/03/09/friede-den-huetten-krieg-den-palaesten/

Verwandeln wir kapitalistische Kriege in eine Revolution der Arbeiter*innen!
https://anarchosyndikalismus.blackblogs.org/2022/03/07/verwandeln-wir-kapitalistische-kriege-in-eine-revolution-der-arbeiterinnen/

Nein zum Krieg!
https://anarchosyndikalismus.blackblogs.org/2022/02/25/keinen-krieg/

Ukraine: Krieg dem Krieg!
https://anarchosyndikalismus.blackblogs.org/2014/03/03/ukraine-krieg-dem-krieg/

IAA: Zur den aktuellen Ereignissen in der Ukraine
https://anarchosyndikalismus.blackblogs.org/2014/02/02/iaa-zur-den-aktuellen-ereignissen-in-der-ukraine/