Folgende Informationen hat die französische Solidaritätsinitiative “Olga Taratuta” auf Grundlage von Berichten der russischen KRAS-IAA zusammengestellt:
Wir haben zuvor über den Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen die Mobilmachung zum russisch-ukrainischen imperialistischen Militärkonflikt berichtet, welche in weiten Teilen der Bevölkerung zu schlaflosen Nächten geführt hat, sowie die Flucht der Wehrpflichtigen und die Ansprache der zum Militärdienst erfasssten Personen und ihrer Familien usw. Nachdem der Kreml am 21.09. angekündigt hatte, dass sie zur Armee eingezogen werden sollen, brachen in Russland zahlreiche ähnliche Protestdemonstrationen aus. Viele Menschen wollen nicht für das Machtstreben und die Gewinne der herrschenden Klasse töten oder getötet werden.
Die häufigste Reaktion der russischen Bürger war die Flucht ins Ausland. Bereits in den ersten vier Tagen haben mehr als 260.000 Männer das Land verlassen. Riesige Warteschlangen bildeten sich an den Grenzübergängen. Die Bewohner*innen Russlands profitieren von der Tatsache, dass es (im Gegensatz zur Situation der Wehrpflichtigen in der Ukraine) noch nicht verboten ist, ins Ausland zu reisen. Obwohl die Grenzbehörden offenbar versuchen, ihnen alle möglichen Hindernisse in den Weg zu legen und ihnen vor dem Grenzübertritt noch die Einberufungsbefehle auszuhändigen.
Darüber hinaus haben sich die Staaten (auch die gegeneinander Krieg führen) sehr schnell darauf geeinigt, dass Kriegsdienstverweigerer*innen und Deserteur*innen in jedem Land als gefährliche und potenziell subversive Elemente angesehen werden. Auch die EU-Kommissarin für Migration, Inneres und Bürgerschaft, Ylva Johansson hat sich in diesem Sinne geäußert. Die baltischen Staaten haben offen angekündigt, dass sie die russischen Bürger*innen, die sich der Einberufung entziehen wollen, nicht in ihr Land einreisen lassen werden.
Um die massenhafte Flucht vor Mobilmachung und Dienstverpflichtung zu verhindern, verstärken die russischen Behörden die repressiven Gesetze weiter. Es wurden Änderungen des Strafgesetzbuches vorgenommen, wonach man jetzt bis zu 10 Jahre Gefängnis riskiert, wenn man eine Armee-Einheit verlässt oder sich nicht zum Militärdienst meldet und während des Kriegsrechts dem Befehl des Kommandanten nicht Folge leistet. Überall wird den Leuten die Einberufung zugestellt, sogar auf öffentlichen Plätzen.
Als direkte Reaktion auf die Ankündigung der Mobilmachung brachen in Russland Demonstrationen, Versammlungen und andere Proteste in einer ungeahnten Größenordnung aus. Solche Aktionen waren seit dem Frühling nicht mehr zu sehen gewesen, bevor sie von heftiger Repression zerschlagen worden waren.
Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation OVD Info fanden bereits am 21.09. in mindestens 39 Städten des Landes Antikriegsaktionen statt. Darunter Moskau, Sankt Petersburg, Jekaterinburg, Perm, Tcheliabinsk, Oufa, Krasnoïarsk, Voronezh, Krasnodar, Tver, Saratow, Kaliningrad, Riazan, Petrozawodsk, Irkutsk, Arkhangelsk, Tulu, Nowosibirsk, Korolew, Oulan-Oude, Jeleznogorsk, Izhevsk, Samara, Salawat, Wolgograd, Wologda, Jakutsk, Tomsk, Kazan, Tioumen, Ivanovo, Syktyvkar, Surgut, Nischny Nowgorod, Kaluga, Vyatskiye Polyany, Smolensk und Belgorod.
Die Straßendemonstrationen dauerten noch die folgenden Tage in verschiedenen Formen an: von illegalen Demonstrationen bis hin zu individuellen und kollektiven Kundgebungen. Jedes Mal wurden die Proteste von der repressiven Staatsmacht brutal unterdrückt.
Vom 21.-26.09. wurden 2.415 Personen bei Demonstrationen gegen die Mobilisierung gefangen genommen (https://ovdinfo.org). Einige der Gefangenen wurden sofort in die Rekrutierungsstellen des Militärs einberufen.
Die eindrucksvollsten Demonstrationen, die sich in gewalttätige Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften und allgemeinen zivilen Ungehorsam verwandelten, brachen in Dagestan aus [Kaukasusrepublik der Russischen Föderation an der Grenze zu Georgien und Aserbaidschan]. Zunächst blockierten die Demonstrant*innen die Autobahn in Babayurt, wonach der Präsident der Republik Dagestan die Rekrutierungsbüros dazu aufrief, sorgfältiger zu arbeiten, damit kein Mann die Eineberufung verpasst.
Am 25.09. begannen Demonstrationen im Dorf Endirey im Bezirk Khasavyurt, wo empörte Bewohner*innen die Autobahn blockierten. Danch verbreiteten sich die Demonstrationen am selben Tag in Machatschkala, der Hauptstadt von Dagestan. Die Leute riefen: „Nein zum Krieg“ und „Unsere Kinder sind kein Kanonenfutter“. Laut dem Rechtsanwalt Arsen Magomedow droht dem Land tatsächlich eine große soziale Explosion.
In Chassawjurt setzte die Polizei Schlagstöcke, Elektroschocker und Pfefferspray ein, um die Versammlung aufzulösen und verhaftete alle Teilnehmer*innen, einschließlich Frauen und Kindern. In Machatschkala hatten Frauen mit einer Antikriegskundgebung begonnen und die Demonstration vor dem Marionettentheater wurde schnell immer größer. Hunderte Menschen schlossen sich an, bis die Sicherheitskräfte dann den Zugang zum Platz blockierten.
Obwohl die lokale Polizei anfangs noch nervös war, wagte sie es nicht, die Menge endgültig aufzulösen. Aber dann fingen die Bullen an, die Leute festzunehmen und es brach ein Chaos zwischen Demonstrant*innen und Zivilpolizist*innen aus. Erst mit dem Einsatz der Nationalgarde wurde die Aktion auf dem Platz am Abend höchst brutal unterdrückt, wobei mehr als 120 Menschen den Repressiionsbehörden in die Hände fielen.
Die gewaltsame Unterdrückung in Machatschkala konnte jedoch die Demonstrationen in Dagestan nicht stoppen. In den sozialen Netzwerken wurde ein Ultimatum an die Behörden verbreitet, in dem die sofortige Freilassung aller verhafteten Personen gefordert wurde. Falls nicht, forderten die Initiator*innen [auf dem Telegrammkanal „Das Schwarzbuch des Kapitalismus“] die Bewohner*innen aller Ortschaften dazu auf, in der ganzen Republik auf die Straßen zu gehen und diese zu blockieren. In Folge dieses populären Ultimatums wurden die meisten Gefangenen wieder freigelassen, allerdings werden acht Personen trotzdem strafrechtlich verfolgt.
Offenbar waren die Behörden von Dagestan ganz schön erschrocken. Im Internet zirkulierte ein Befehl des Militärkommissars von Dagestan, Mustafaew, wonach die Mobilmachung in der Republik aufgehoben wurde. Diese Anordnung wurde dann jedoch zurückgenommen. Der Militärkommissar kündigte aber im Fernsehen an, dass weder Personen ohne militärische Erfahrung, noch die Gefangenen an die ukrainische Front eingezogen werden würden. Und, dass die in Dagestan verbreiteten Gerüchte falsch seien, wonach 13.000 Menschen in dieser Region zum Militärdienst herangezogen würden. Der Präsent von Dagestan versprach, die „Fehler zu korrigieren“, welche bei der Mobilmachung begangen wurden. Aber er versäumte nicht, „externe Kräfte“ zu beschuldigen, die Demonstrationen organisiert zu haben.
Am selben Tag fand auf dem Hauptplatz von Naltschik, der Hauptstadt der Republik Kabardino-Balkarien [eine kaukasische Republik im Norden Georgiens], eine Protestkonferenz statt, an der vor allem Frauen teilnahmen. Die Teilnehmer*innen forderten von den Behörden, ihre Angehörigen in Ruhe zu lassen und sie nicht in den Krieg zu schicken. Beamt*innen, die zu ihnen sprachen, versuchten sich zu rechtfertigen, indem sie sich darauf zurückzogen, dass sie doch nur „das russische Bundesgesetz respektieren“ und den Befehlen gehorchen würden.
In Jakutsk/Zentralsibirien kamen etwa 400 Menschen, zumeist Frauen, auf dem Ordzhonikidze-Platz im Stadtzentrum zusammen und organisierten eine Anti-Kriegs-Aktion in Form einer „osouokhaï“, der traditionellen jakutischen Tanzrunde. Die jungen Mädchen waren die ersten, die sich an der Hand nahmen und sie wurden von älteren Frauen unterstützt, woraufhin auch andere Demonstrant*innen allmählich begannen, dem Tanzkreis beizutreten. Die Teilnehmer*innen riefen dabei „Nein zum Krieg!“.
Am Anfang gelang es der Polizei noch die Demonstrant*innen zu vertreiben, aber dann ließen ihre Kräfte nach und die sahen zu, wie die Frauen die Osouokhaï abhielten. Aber irgendwann fanden sich die Polizist*innen in der Mitte der Runde wieder, umschlossen von den tanzenden Frauen, die dann forderten: „Lasst unsere Kinder leben!“ Nach einiger Zeit begann die Polizei, dann die Leute zu schlagen und festzunehmen , woraufhin die Demonstrant*innen reagierten und „Schande!“ schrien. Laut OVD Info wurden 24 Frauen von der Polizei gefangen genommen.
In Kyzyl, der Hauptstadt von Tuva [in der Republik Sibirien, an der Grenze zu Mongolei und Türkei] gingen am 29.09. Dutzende von Frauen gegen Mobilmachung auf die Straße. Etwa zwanzig von ihnen wurden von der Polizei festgenommen. Die Repressionskräfte zwängten sie brutal in eine “Wanne”, um sie zur Polizeiwache zu bringen, wo sie verhört wurden und ihre Fingerabdrücke abgeben mussten.
Es wird berichtet, dass außer den Straßendemonstrationen auch vermehrt Fälle von Brandstiftung bei Einberufungststellen und Militärbüros gemeldet wurden. Zwischen dem 21. und 29.09. berichtete die Presse über mindestens 20 versuchte Brandstiftungen, meistens durch Molotow-Cocktails. Vor allem richteten sich diese Angriffe gegen Militär- oder Verwaltungsbüros in vielen Regionen der Russischen Föderation, insbesondere in den abgelegenen Republiken des Kaukasus oder Sibiriens. Arme und ländliche Gebiete, aus denen die meisten der in die Ukraine geschickten Soldaten, dort getötet werden. Meist haben die versuchten Branstiftungen nur wenig Schaden angerichtet.
In Salawat (in Baschkortostan, einer Republik zwischen der Wolga und den Uralbergen im Osten Russlands) hat jemand in der Nacht des 24.09. vor der Tür der regierenden Partei „Vereinigtes Russland“ Autoreifen in Brand gesetzt.
Am frühen Morgen des 26.09. raste ein Einwohner von Uryupinsk mit seinem Auto vor das Rekrutierungsbüro und warf dann Molotow-Cocktails auf das Gebäude. Das Feuer erreichte den Eingang zum Gebäude und breitete sich auf einer Fläche von 100 Quadratmetern aus.
Der Umfang und die geografische Verbreitung dieser Aktionen deuten darauf hin, dass sie unkoordiniert und rein spontan stattfinden. [Die geringen Schäden zeigen, dass es sich nicht um Handlungen von „Profis“ handelt]. In einem Bemühen, die potenziellen Brandstifter*innen einzuschüchtern, kündigte der Militärstab der Russischen Armee an, dass Brandstiftung nicht nur als Verbrechen, sondern jetzt auch als terroristische Handlung angesehen werden, welche mit 15 Jahren Gefängnis bestraft würden.
Es gibt jedoch Einzelfälle anderer Taten von noch mehr verzweifelten Menschen: So hat sich am 25.09. in Riazan ein Mann am zentralen Busbahnhof selbst angezündet. Ein Augenzeuge sagte, der Mann habe geschrien, dass er nicht am Krieg gegen die Ukraine teilnehmen wolle. Die Polizei brachte ihn in ein Hinterzimmer, dann kamen Krankenwagen und nahmen ihn mit. Laut einem Augenzeugen war alle die ganze Kleidung des Mannes verbrannt,
Und am 26.09. eröffnete der 25-jährige Ruslan Zimin in der militärischen Meldestelle in Ust-Ilimsk in der Region Irkutsk mit Schusswaffen das Feuer auf den Militärkommissar und verletzte diesen schwer. Der verhaftete junge Mann sagte den Ermittler*innen, er habe den Anschlag wegen des Todes seines 19-jährigen besten Freundes bei Kämpfen in der Ukraine begangen. Darüber hinaus hatte in Folge der Ankündigung der teilweisen Mobilmachung auch sein Cousin Wasily Gurow (21) eine Einberufung erhalten. Und es wurde gemeldet, dass der 25-jährige Zinin selbst zum Kriegsdienst herangezogen werden sollte.
Solidaritätsinitiative “Olga Taratuta”
Korrigierte, automatische Übersetzung: ASN Köln
[Anmerkungen im Original]
Mehr Infos:
– Hintergründe zum Krieg in der Ukraine (KRAS-IAA)
– Der Kampf gegen den Krieg in Russland und der Ukraine (KRAS-IAA)
– Russland: Unterstützung für inhaftierte Kriegsgegner*innen (“Olga Taratuta”)
– Russland: Über prinzipienvergessene “Anarchist*innen” (KRAS-IAA)
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