Kolumbien: Die Anarchist*innen und die „linke“ Regierung

Auf der Webseite der anarchosyndikalistischen Unión Libertaria Estudiantil y del Trabajo (ULET) in der Region Ruila gibt der Autor Luis A. Rozo eine erste Einschätzung der Lage nach dem Sieg der Linksregierung in Kolumbien.

Dieser sei ein historisches Ereignis für das Land, welches vor allem dem Engagement jenes Großteils der Bevölkerung zu verdanken, der auf eine Veränderung durch Wahlen vertraut. Jahrelange gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Ausgrenzung seien dem vorausgegangen. Die sich abzeichnende soziale Unzufriedenheit letzten Jahr hatte das Establishment zum Zittern gebracht und die Stärke der Bevölkerung gezeigt, für Proteste zu mobilisieren.

Es wird nun unter anderem erwartet, daß die neue Regierung soziale Reformen durchführt, um die Lage der Bevölkerung zu verbessern. Auch erhoffen sich viele, dass die Linksregierung Wege findet, um den bewaffneten Konflikt im Land mit einem „totalen Frieden“ zu beenden. Doch ebenso deutet vieles darauf hin, dass die Regierung infolge des Haushaltsdefizits ihres Vorgängers Iván Duque und angesichts der drohenden Weltwirtschaftskrise ihre geplante Sozialpolitik garnicht umsetzen werden kann.

In Kolumbien sehen Anarchist*innen daher keine Möglichkeit einer wirklich tiefgreifenden Veränderung durch irgendeine Regierung bzw. Staatsform. Denn diese hält stets die Privilegien der herrschenden Klassen und des Kapitals aufrecht. Doch wer wagt, diese „linke“ Regierung zu kritisieren oder Alternativen zur bürgerlichen Demokratie zu entwickeln, sieht sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, damit das rechte Lager zu unterstützen. Oder die konkrete Realität des Landes nicht richtig analysiert zu haben oder „utopische“ Forderungen zu stellen.

Seit die neue Regierung im Amt ist, gibt es Streit um die Kontrolle der staatlichen Institutionen und viele haben ihr bereits enttäuscht den Rücken gekehrt. Damit bestätigt sich, dass Politik bloß ein Kampf um die Macht im Staat und über seine Institutionen ist. Regierungspraxis bedeutet nämlich, zwischen den Bereichen Politik und Wirtschaft einen Ausgleich zu finden.

Die traditionellen politischen Eliten kommen durch ihr Streben nach Herrschaft daher immer wieder an die Macht und soziale „Reformen“ werden nur dem Namen nach durchgeführt. Auch ein von Progressiven und Demokrat*innen propagierter „Wandel“ endet schließlich darin, dass alle Versprechungen an die Bevölkerung letzlich gebrochen werden.

Daher kommen auf Anarchist*innen in Zeiten von „linken“ Regierungen große Aufgaben zu: Einerseits diejenigen zu organisieren, die eine philosophischen und sozialen Bezug zum Anarchismus haben. Und andererseits zur Neuorganisation der gesellschaftlichen, ethnischen und bäuerlichen Bewegungen beizutragen, sowie der staatlichen Repression entgegenzuwirken.

Die erste und unmittelbar wichtigste Aufgabe besteht darin, durch Organsierung sich in die Lage zu versetzen, auf jede Situation kollektiv, kraftvoll und entschieden reagieren zu können. Sei es durch eine spezifische Formierung oder durch eine anarchosyndikalistische Organisation oder irgendeine andere, die noch entstehen könnte.

In dem Bewusstsein, dass ansonsten der Klassenfeind weiterhin seine Privilegien genießen wird, und weil es die Pflicht der Anarchist*innen ist, die Grundsätze der direkten Aktion, der Solidarität und der gegenseitigen Hilfe prakisch umzusetzen. Gleichzeitig müssen Vorbereitungen getroffen werden, damit wir uns als Arbeiter*klasse bilden und in die Lage  versetzen, die verfügbaren Ressourcen selbst verwalten zu können.

Zweitens, geraten während einer „linken“ Herrschaft auch die sozialen Bewegungen, die Bäuer*innen und die Indigenen in ihrem Kampf um Autonomie stärker in einen Widerspruch zu Staat und Kapital. Hinzu kommen andere Basisbewegungen für ein Leben in Würde, sowie für die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen. Auch in mögliche Dialoge und Vereinbarungen mit den bewaffneten Gruppen, die nach dem jahrzehntelangen Bürger*krieges weiterhin präsent sind, müssen die sozialen Bewegungen aktiv einbezogen werden.

In Kolumbien haben wir es aber nicht mit einer anarchistischen Gesellschaft zu tun, sondern Anarchist*innen leben mitten in der heutigen Gesellschaft. Daher besteht für uns die Verpflichtung, alle individuellen und kollektiven Kräfte für eine Verbesserung der Lebensbedingungen von unten einzusetzen.

Die dritte Aufgabe besteht darin, sich selbst verteidigen zu können und mittels eigener Aktionen dem Auftreten der Rechten etwas entgegen zu setzen, um deren Erfolge zu verhindern. Auch, weil rechte Demonstrationen und Mobilisierungen gegen die Maßnahmen der „linken“ Regierung zunehmen werden, um die Probleme der Menschen für ihre Interessen zu benutzen. Indem in der einfachen Bevölkerung, bei Student*innen, Arbeiter*innen usw. ein Klassenbewusstsein wiedergewonnen wird, können wir unsere Interessen selbst verteidigen. Und dann gemeinsam als Klasse für uns zu kämpfen, anstatt für diejenigen, die uns durch die Geschichte hindurch immer beherrscht und ausgebeutet haben.

Dabei gilt es auch den Irrglauben zu überwinden, dass der Faschismus durch Wahlen bekämpft werden kann. Vor allem angesichts der derzeitigen Spaltung zwischen den politischen Kräften, die im Wahlkampf keinen Konsens gefunden haben. Die Rechten verfügen jedoch über zahlreiche Einflussmöglichkeiten, die nach den Wahlen nicht verschwunden sind.

Da die Macht sich an den Privilegien der herrschenden Klasse ausrichtet kann die Rechte in ihren vielfältigen Spielarten durch Spekulation und Medienmacht ihre Reihen stärken, um dann wieder die Präsidentschaft zu übernehmen. Denn die Rechten verfügen über einflussreiche Medien und die wirtschaftlichen Mittel, welche es ihnen ermöglichen, ihre Privilegien zu wahren und handlungsfähig zu bleiben.

Als vierte, aber nicht minder wichtige Aufgabe nennt der Autor, dass man den Angriffen von demokratischen und fortschrittlichen Kreisen auf Anarchisten etwas entgegen halten muss. Denn es gibt Stimmen, die behaupten, dass Anarchist*innen durch eine Ablehnung der Linksregierung das rechte Lager unterstützen würden. Doch wir sehen keine Chance auf wirkliche Veränderung, solange es überhaupt Regierte und Regierende, Ausgebeutete und Ausbeuter*innen gibt. Es sei uns an unsere Grundsätze von Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit erinnert, welche uns moralisch stärken. Und uns in jeder Situation ein Leitbild sind, damit wir uns nicht den Kopf verdrehen lassen. Dies ist keine Frage einer „reinen Lehre“, sondern die Übereinstimmung des Handelns mit den eigenen Grundsätzen und der Kampf für die Würde der Arbeiter*klasse.

Diese genannten Aufgaben zielen darauf ab, dass über die gegenwärtige Situation in Kolumbien nachgedacht wird. Es sind Ideen, die zur Diskussion stehen, und die zu einem ständigen Dialog einladen zwischen allen, die im libertären Gedankengut eine Möglichkeit sehen, um eine freiheitliche Gesellschaft aufzubauen, welche auf grösstmöglichem Wohlstand für alle beruht. Vor allem dürfen wir nicht zulassen, dass die Rechte, der Staat und das Kapital über unser Leben bestimmen.

Der Text endet mit einem Zitat des spanischen Anarchisten Ricardo Mella: Willst du Kultur, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit? Dann geh und hol sie dir. Du willst nicht, dass andere kommen, um sie dir zu geben. Die Kraft, die du nicht hast, wenn du alles ansiehst, wird ein kleiner Teil von dir selbst nicht haben. Dieses politische Wunder ist noch nie geschehen und wird niemals geschehen. Deine Emanzipation wird dein eigenes Werk sein, oder du wirst dich niemals emanzipieren.“

Da die ersehnte Freiheit nur ermöglicht wird durch die Arbeit und durch eine kollektive Macht der Gesellschaft, ist es nötig, die Arbeit zu organisieren und die Gesellschaft durch freie Organisierung weiter zu entwickeln. Konkret ruft der Autor dazu auf, gemeinschaftliche Gemüsegärten und Küchen einzurichten, sowie den Kampf gegen jene zu führen, die uns bei der Arbeit unterdrücken. Die marktförmige Erziehung soll zudem in eine freiheitliche Bildung ungewandelt werden. Und im Rahmen unserer Möglichkeiten sollten wir auch in der Nachbarschaft aktiv werden. Um jene 50% der Bevölkerung, die sich der Teilnahme am Wahlzirkus enthalten haben, für die Organisierung und den weiterhin notwendigen Kampf zu gewinnen. Für eine anarchistische, anitautoritäre und antipatriarchale Organisation, die den Staat ebenso überwinden will, wie den Kapitalismus.

Kontakt zur ULET-IAA:
https://www.uletsindical.org