Murray Bookchins Erbe: Eine syndikalistische Kritik

Am 15.01.2021 jährte sich zum 100. Mal der Geburtstag von Murray Bookchin und vielleicht ist sein Beitrag zu radikaler Politik eine nähere Betrachtung wert:

Bookchin hatte sich in den 1930ern der kommunistischen Jugendbewegung angeschlossen, später jedoch die offiziellen marxistischen Organisationen verlassen und sich dem freiheitlichen Sozialismus zugewendet. Ein zentraler Punkt seiner Politik seit den Sechzigern Jahren bis an sein Lebensende [2006] war die Gegnerschaft zur Ausrichtung auf den Arbeiter*kampf, welcher im Syndikalismus und bei vielen Anarchist*innen – aber auch bei Marxist*innen – im späten 19. Jh. und frühen 20. Jh. im Mittelpunkt stand.

Logo der Workers' Solidarity Federation (WSA)

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Generalstreiks und heftigen Straßenkämpfe von Arbeiter*innen nur noch verblasste Erinnerungen. In den Nachkriegsjahren festigte sich in den Gewerkschaften eine konservative Bürokratie. In der amerikanischen Arbeiter*klasse gab es in den 1960ern keine „kämpferische Minderheit“ mehr aus radikalen Arbeiter*innen, welche seit Anfang des Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs die amerikanischen Betriebe geprägt hatte. Dies führte dazu, dass einige Radikale sich auf die Suche nach einem neuen „Subjekt“ des revolutionären Wandels machten. Und Bookchin stand beispielhaft für diese Denkweise:

„Im Gegensatz zu den Erwartungen von Marx schwindet die industrielle Arbeiterklasse zahlenmäßig und verliert dabei immer mehr ihre traditionelle Klassenidentität. […] Die heutige Kultur [und] Produktionsweisen haben das Proletariat in eine weitgehend kleinbürgerliche Schicht verwandelt. […] Das Proletariat […] wird vollständig durch automatisierte und sogar verkleinerte Produktionsmittel ersetzt werden. […] Die Klassenkategorien sind nun durchsetzt mit hierarchischen Kategorien auf Grundlage von Rassismus, Geschlecht, sexueller Orientierung und vor allem nationalen oder regionalen Unterschieden.“

Dieses Zitat stammt aus Bookchins letztem Buch „Die nächste Revolution. Libertärer Kommunalismus und die Zukunft der Linken“ [The Next Revolution: Popular Assemblies and the Promise of Direct Democracy]. Es zeigt einen gewissen Mangel an Verständnis davon, wie Syndikalist*innen – und andere Sozialist*innen – die Arbeiter*klasse betrachten. Die Grundlage des revolutionären Potenzials der Arbeiter*klasse ergibt sich sowohl aus ihrer Stellung als Bevölkerungsmehrheit, wie auch aus ihrer offensichtlich unterdrückten und ausgebeuteten Lage. Arbeiter*innen besitzen keine eigenen Mittel, um für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.

Daher sind wir gezwungen uns Jobs bei Arbeitgeber*innen zu suchen, um Löhne zu verdienen, die wir zum Leben benötigen. Und diese Vereinbarung zwingt Arbeiter*innen dazu, sich der autokratischen Herrschaft des Managements unterzuordnen, durch welche den Arbeiter*innen eine Kontrolle über jene Entscheidungen vorenthalten werden, welche sie im täglichen Betriebsablauf und bei der Gestaltung der Arbeitsplätze direkt betreffen. Die Arbeitgeber*innen besitzen die Produkte unserer Arbeit und benutzen sie, um Gewinne zu kassieren – also eine grundsätzlich ausbeuterische Situation.

Die Arbeiter*klasse ist vielfältig und besteht aus verschiedenen Schichten. Im Zentrum der Arbeiter*klasse stehen die Handarbeiter*innen, welche sich der Kontrolle durch eine Arbeitsverwaltung unterwerfen müssen und die selbst kein Teil des sie kontrollierenden Managements sind. Laut „The Working Class Majority“ von Michael Zweig betrifft das etwa 60 Prozent der Bevölkerung (wenn man alle Angehörigen und die Rentner*innen aus früheren Arbeiter*klasse-Jobs mitzählt).

Darüber hinaus sind weitere 15 Prozent aller Werktätigen als einfache „Facharbeiter*innen“ angestellt, welche ebenso dem Management unterstellt sind: Lehrer*innen, Schreibkräfte, Bibliothekar*innen, Programmierer*innen, usw. Diese Schicht hat höhere Bildungsabschlüsse und wird oftmals besser bezahlt als Handarbeiter*innen, aber gründet oftmals Gewerkschaften und ist ein potenzieller Bestandteil von Bündnissen der Arbeiter*klasse. Die Klasse der Arbeitenden verschwindet also nicht, sondern ist die Mehrheit der Bevölkerung.

Das „Industrieproletariat“ besteht aus Arbeiter*innen der „Schlüsselindustrien“ – nicht nur Produktion, sondern auch Transport, Betriebsmittel, Bauwesen und Rohstoffabbau (Steinbrüche, Öl und Erdgas, Forstwirtschaft). Die Arbeiter*innen in der hochindustrialisierten US-Landwirtschaft sollten hier ebenfalls mitgezählt werden, denn diese produziert die Grundnahrungsmittel. In den unterschiedlichen Bereichen der „Schlüsselindustrie“ arbeiten etwa 25 Prozent aller Berufstätigen in den USA.

Arbeitsplätze in der Produktion werden meist deshalb abgebaut, weil die Kapitalist*innen immer neue Technologien und wechselnde Arbeitsweisen einsetzen, um die Zahl von Arbeiter*innen pro Stunde je Outputeinheit zu verringern. Das ist keineswegs neu, denn es hat spätestens in den 1920er Jahren angefangen. Methoden zur Steigerung der Arbeitsleistung durch „schlanke Produktion“, welche als eine Form der Beschleunigung in den letzten 40 Jahren eingesetzt wurden, sind der anhaltende Trend. Dabei produzieren die USA weiterhin rund 17 Prozent der weltweiten Fertigung, obwohl nur 12 Prozent der Arbeiter*innen in diesem Bereich tätig sind.

Aber die Jobs in anderen „Schlüsselindustrien“, wie Transport und Bau, sind nicht in gleichem Maß zurückgegangen. Und diese Branchen sind für die US-Wirtschaft weiterhin bedeutend, denn sie machen etwa die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts aus. Daher würde das Entstehen einer kämpferischen Arbeiter*bewegung in diesem Wirtschaftsbereich eine große Schlagkraft hervorbringen.

Der Syndikalismus ist auf die Entwicklung einer Gewerkschaftsbewegung ausgerichtet, welche von den Arbeiter*innen kontrolliert wird und massiv eingreifen kann, um beispielsweise durch Streiks das Abfließen der Gewinne zur besitzenden Klasse zum Stillstand bringen kann. Durch das zunehmend globalisierte und verstreute Produktionssystem haben Logistik bzw. Transport und Lagersysteme zunehmend an Bedeutung gewonnen.

Daher haben Arbeiter*innen in Großbetrieben, z.B. in Produktion, Zulieferung und Transport, eine potenzielle Macht. Diese könnte dazu genutzt werden, die Interessen der Arbeiter*klasse durch die Entwicklung eines höheren Grades an Klassensolidarität voranzubringen. Darüber hinaus verfügt die Arbeiter*schaft über die Macht, die Kapitalist*innen von der Kontrolle über das System der gesellschaftlichen Produktion zu vertreiben. Sie könnten die Arbeitsplätze übernehmen und die Produktion in diesen Branchen auf Grundlage der Arbeiter*selbstverwaltung neu organisieren.

Diese Begründung der syndikalistischen Ausrichtung auf Arbeitskämpfe und betriebliche Selbstorgansiation wurde von Bookchin komplett ignoriert. Wenn die arbeitende Klasse die kollektive Verwaltung der Produktion übernehmen soll, muss es eine Arbeiter*bewegung in diesen Branchen geben, die das umzusetzen kann. Wie sollen sie sich denn sonst von der Unterdrückung durch das kapitalistische Arbeitsregime befreien?

Obwohl Syndikalist*innen die Bedeutung der „Schlüsselindustrien“ aus den genannten Gründen anerkennen, beschränken sie die Arbeiter*klasse nicht auf „das Industrieproletariat“. Oft geht es auch um Organisierung in anderen Branchen, wie Einzelhandel, Gesundheitswesen und andere Dienstleistungen. Das Ziel des Syndikalismus ist die Re-Organisierung der gesamten Wirtschaft durch die Selbstverwaltung von Arbeiter*innen.


Bookchin argumentiert, dass das geringe Ausmaß an Arbeitskämpfen seit dem Zweiten Weltkrieg dadurch bedingt ist, dass die Menschen keine lebendige Erinnerung mehr an die vorkapitalistische Zeit haben, als noch Kleinbäuer*innen ihre eigenen Höfe und Handwerker*innen ihre eigenen Werkstätten betrieben haben. Diese Theorie geht davon aus, dass das Streben nach „Arbeiter*kontrolle“ aus der Vertrautheit mit einer vergangenen Epoche entsteht, in der die Produzent*innen noch über ihre Arbeit selbst bestimmen konnten. Bookchin behauptet, dass die radikalen Arbeiter*innen im Zeitalter der großen syndikalistischen Gewerkschaften:

(…) „meistens Handwerker*innen waren, für die das Fabriksystem ein neues kulturelles Phänomen war. Viele andere hatten einen unmittelbar landwirtschaftlichen Hintergrund und waren nur eine oder zwei Generation entfernt von einem ländlichen Lebensstil. Bei diesen ‚Proletarier*innen‘ erzeugte die Fabrikdisziplin und ebenso das Eingesperrtsein in Fabrikgebäuden höchst unangenehme kulturelle und psychologische Spannungen. Sie lebten in einem Spannungsfeld zwischen einerseits einem vorindustriellen, durch Jahreszeiten geprägten und weitgehend entspannten Lebensstil als Handwerker*innen oder Bäuer*innen. Und andererseits einem Fabrik- oder Betriebssystem, welches ausgerichtet war auf Höchstleistung, stark rationalisierte Ausbeutung, unmenschliche Maschinenrhythmen, kasernenähnliches Leben in städtischen Ballungsräumen und außergewöhnlich brutale Arbeitsbedingungen. Daher verwundert es nicht, dass diese Art von Arbeiter*klasse extrem leicht aufzuwiegeln war und dass Straßenschlachten sich leicht zu einer Art Aufstand ausweiten konnten.“

Zunächst ist festzuhalten, dass diese Theorie eine unbegründete Form des wirtschaftlichen Determinismus ist, als ob die Wirtschaftsweise die Menschen direkt dazu „bringt“ bestimmte Dinge zu denken. Im Weiteren sind die Vorannahmen dieser Theorie falsch: Damals in den 1930ern hatte viele der radikalen Arbeiter*innen überhaupt keinen Hintergrund mehr als selbständige Handwerker*innen und Bäuer*innen aus vorkapitalistischer Zeit, oft waren bereits ihre Eltern und Großeltern schon Lohnabhängige.

Darüber hinaus sind die Kämpfe um die Kontrolle weiterhin ein Teil heutiger Arbeitskonflikte, beispielsweise wenn Krankenpfleger*innen die Personaluntergrenzen verteidigen. Erst kürzlich haben Raffinerie-Arbeiter*innen einen landesweiten Streik durchgeführt, weil sie für ihr Recht kämpfen, die Instandhaltungsarbeiten einzustellen, sobald sie diese für unsicher halten – auch das ist ein Kampf um die Kontrolle. Oder wenn sich Lehrer*innen für kleinere Klassen und für eine bessere Versorgung ihrer Schüler*innen einsetzen.

Um das relativ niedrige Niveau von Arbeitskämpfen in den letzten Jahrzehnten zu verstehen, bedarf es einer näheren Betrachtung der Art und Weise, wie die Aufstände der Arbeiter*klasse entstehen und sich nach und nach entwickeln in Zeiten von Streikwellen und ausgeweiteten Kämpfen. Auf solche Epochen folgt eine langwierige Periode des Organisierens, der Bemühungen um allgemeine Bildung, des Lernens aus gescheiterten früheren Kämpfen. Und schließlich durch eine steigende Anzahl aktiver Arbeiter*innen, welche sich radikalisieren und sich Fähigkeiten des Organisierens aneignen, usw. Daher ist ein höherer Grad an Arbeitskämpfen und die Entwicklung eines „Solidaritätsbewusstseins“ nicht einfach ein „automatisches“ Ergebnis der Bedingungen der Arbeiter*klasse.

Bookchin hat niemals ein neues „revolutionäres Subjekt“ gefunden – zumindest nicht in den USA. Und seine politische Strategie der Lokalpolitik macht wenig Sinn und konnte sich nicht durchsetzen. Die radikale kurdische Bewegung in der Türkei und Nordsyrien wurde von Bookchin beeinflusst und seine direktdemokratischen Ideen von Verwaltung wurden übernommen. Doch die Kurd*innen verfolgen eine andere Strategie…

Bei seiner Betonung der Möglichkeiten von Nachbarschaftsversammlungen als Teil einer freiheitlich-sozialistischen Verwaltung innerhalb der kommunalen Selbstorganisation lag Bookchin keineswegs falsch. Doch Versammlungen von Einwohner*innen fanden schon in früheren Zeiten im Zuge verschiedenster Kämpfe statt, weshalb Versammlungen von örtlichen Anwohner*innen immer eine besondere Rolle spielen. Doch als eine Strategie zum Wandel können sie die Bedeutung von Massenorganisierung und Kämpfen im Produktionsbereich nicht ersetzen, da die Arbeitenden dort direkt der unterdrückerischen Macht des Kapitals gegenüberstehen.

Bookchin hatte recht damit, dass die Auseinandersetzungen entlang der Verwerfungslinien von Rassismus, Geschlechtsidentität und ökologischer Zerstörung während der 1960er und `70er Jahre zunehmend in den Vordergrund und ins Zentrum gerückt sind. Die Kämpfe der schwarzen Freiheitsbewegung gegen die Segregation und andere Aspekte rassistischer Ungleichbehandlung, aber auch die Frauen*bewegung, sowie die Bewegung der Schwulen und Lesben, haben damals die gesamte Linke beeinflusst, ein besseres Verständnis von nicht-klassenbezogenen Aspekten der Gesellschaftsstruktur zu entwicklen, in denen die Freiheit mit Füßen getreten wird.

Und das hat ebenfalls die libertär-syndikalistischen Aktivist*innen und ihre Organisationen beeinflusst. Darüber hinaus muss sich unser Nachdenken über Strategien auch damit befassen, auf welche Art sich das System im Laufe der Zeit verändert hat, wie neue Themen in den Blick geraten, wie neue Bevölkerungsteile aktiv geworden und die Neuen Sozialen Bewegungen entstanden sind.

Unser strategisches Denken muss diese neuen Dinge miteinbeziehen, aber das kapitalistische System in den USA hatte schon immer einen rassifizierten und geschlechtsidentitären Charakter. Und diese Arten von Unterdrückung sind stets auch am Arbeitsplatz vorhanden und wirken sich darauf aus, wie die Institutionen des Systems handeln. Verschiedene Unterdrückungsformen wirken sich direkt auf unterschiedliche Bevölkerungsteile der vielfältigen Arbeiter*klasse aus.

In der Parole „Ein Angriff auf eine*n ist ein Angriff auf alle“ wird daher die Klassensolidarität ausgedrückt. Wenn eine Teilgruppe der Klasse von einer besonderen Ungerechtigkeit betroffen ist (wie rassistische Diskriminierung, sexuelle Belästigung, rassistische Polizeimorde oder Angriffe auf Migrant*innen), dann würde es eine Verweigerung von Solidarität bedeuten, wenn diesen Gruppen in ihrem Bemühen Beschwerde einzureichen keine praktische Unterstützung angeboten würde.

Die Arbeiter*klasse kann sich solange nicht selbst befreien, bis sie sich in eine Bewegung „verwandelt“ hat, welche die allgemeine soziale Befreiung zum Ziel hat. Indem sie sich mit Themen auseinandersetzt, wie das unterdrückerische Wesen des Staates, die Muster rassistischer und geschlechtlicher Ungleichheit, sowie den ökologisch verheerenden Charakter des kapitalistischen Wachstums. Die Arbeitenden können in ihren Kämpfen gegen die herrschenden Klassen jedoch nicht erfolgreich sein, wenn sie nicht in der Lage sind, die vielfältigen Menschengruppen zusammenzubringen. Und wenn wir uns nicht in gesteigertem Maße gegenseitig in unseren Kämpfen unterstützen.

Tom Wetzel

Quelle:
ideas&action (Workers‘ Solidarity Alliance),
http://ideasandaction.info/2021/01/murray-bookchins-legacy-syndicalist-critique/

Übersetzung:
Anarcho-Syndikalistisches Netzwerk – ASN Köln
(https://asnkoeln.wordpress.com)

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